Talent 2.0 geboren!
Ein Talent bildet sich in der Stille- J.W. von Goethe
Hans Keilson, ein bekannter niederländischer Schriftsteller und Psychiater ist im Mai 2011 verstorben. Seine Geschichte beweist, wie komisch und unbegreiflich manche Sachen laufen können, und ich gebrauche seinen Namen hier als Metapher. Vor knapp 2 Jahren wurde in New York Times ein kurzer Artikel veröffentlicht, und es war komischerweise genug, um Hans Keilson in den Niederlanden aufs Neue zu entdecken, nachdem in den vergangenen 60 Jahren praktisch kein Wort über ihn geschrieben wurde. Die ganze kulturelle Szene hat ihn 60 Jahre lang „vermisst“. Die niederländischen Medien wagten es, um in diesem Fall über einen verspäteten Durchbruch zu sprechen. Ein einziger Satz in NYT war genug, um das Ganze in Bewegung zu setzen.
Was ist das denn für ein sozialer Mechanismus, wobei einerseits große Talente nicht entdeckt werden, und andererseits jemand durch einen (gut) gerichteten Furz auf Youtube weltberühmt wird. Dass man mit nur einem Furz in Kombination mit ein bisschen Glück ein finanziell sorgenloses Leben haben kann, während man nach 30 Jahren im Stillen als Alten- oder Krankenpfleger gearbeitet zu haben, keinen Dank bekommt. Ich finde es eine merkwürdige Auffassung über einen wahren Wert.
So ist mir z.B. Geschichte eines klassischen Pianisten bekannt, der in den Niederlanden in der Konzerthalle spielt. Durchbruch gelungen, würde man vermuten. In seinem Heimatland gibt er jedoch oft Konzerte in Pflegeheimen. Sollte eigentlich kein Problem sein, fühlt sich doch anders an. Joshua Bell, der einen internationalen Durchbruch gemacht hat, der spielend Carnegie Hall füllt, hat einmal erlebt, dass jedermann an ihm vorbeilief, als er eines Morgens in einer Metrostation spielte. Die Aussage „Bedeutung wird vom Kontext angetrieben“- bekommt hier eine ganz andere Gestalt.
Wie kommt es, dass man in den Qualitätsmedien öfters Artikel über oder von berühmten Ausländern liest, und dass einige Tage später in der Rubrik „Leserbriefe“ scheint, dass ein anonymer Leser viel mehr zum Thema weiß und auch ein viel schärferes und ausgewogeneres Urteil darüber hat? Denken Sie, dass die Qualitätsmedien etwas mit den Informationen tun?
Ich bin sehr neugierig, welche psychologischen und soziologischen Erklärungen es dafür gibt. Dieser Mechanismus speilt sich nicht nur in der großen Welt, sondern auch in unserem eigenen Lebenszirkel ab.
Es ist natürlich unmöglich, um jedermann zu kennen und zu schätzen. Eine zweite Erklärung für den Mechanismus auf dem Talentmarkt ist, dass man eigentlich Talent braucht, um Talente erkennen zu können. Und das hat lang nicht jeder. Eine weitere Erklärung wäre, dass viele von uns zu unsicher sind, um eigene Meinung auszusprechen. Liebhaber eines bekannten Schriftstellers oder von J.S. Bach mit seiner Matthäus Passion zu sein, scheint eine gute, sichere und außerdem noch eine sozial bewiesene Strategie zu sein . Diese Meinung ist nämlich sozial risikolos. Sozial erwünscht sozusagen, die eine Art Festung ist und manchmal ein schwarzes Loch, das wir natürlich probieren zu vermeiden, koste es was es wolle.
Man braucht sicher Mut, um einen krassen Außenseiter einem deutlichen Favoriten vorzuziehen. Der Nobelpreisträger für Chemie Daniel Shechtman ist eines der Beispiele. Er musste lange Zeit warten, nachdem er zuerst aus seiner Universität rausgeschmissen worden war. Wissenschaft wählt sowieso nicht auf Basis von Visionen, wie wir es von Thomas Kuhn gelernt haben. In Zeitschriften sind Referenzen und Meinungen sehr wichtig. Für wirklich neue Einsichten gibt es keine Referenzen. Darum ist eine neue Vision am Anfang praktisch immer unwissenschaftlich.
Sie würden sich fragen, warum ich jetzt mit der Kolumne zu diesem Thema komme? Meine Vision ist, dass wir in einer dynamischen, komplexen und globalisierenden Welt ohne zentralen Referenzpunt und mit beschränkten dirigierenden Kapazitäten leben, wo wir selbst Bestandteile des Problems sind. Ich bin überzeugt, dass wir in den kommenden 10 Jahren einen großen Bedarf an Menschen mit ausgesprochener eigener Meinung nötig haben . Menschen, die mit ihren Fertigkeiten, Kenntnissen, Weisheit und Ansichten zur Entwicklung beitragen können. Schreier und furzende Querköpfe -zur Seite, bitte! Lassen wir hoffen, dass wir als Gesellschaft den Weg zu den Anhängern nicht aus dem Auge verlieren.
Etwas Neues ist eine nicht eher entdeckte Verbindung zwischen bereits bekannten Elementen. Etwas Neues findet man, indem man viele Sachen, die früher nichts miteinander zu tun hatten, zusammen bringt (De Bono). Manchmal müssen wir unser Mentalmodel verändern (alles, was wir bisher gelernt haben), und das können wir jetzt gut beobachten. Unsere Produkte und Dienste machen uns nicht glücklicher, und unsere Institutionen decken unseren Bedarf nicht. Wird es nicht höchste Zeit, auf Andere auch mal zu hören?